Essay: Datenschau im Zuckerberg

Auf der Suche nach einer Einstellung zu einem Skandal der vielleicht keiner ist, betrachtete ich vorhin etwa dreihundertsechsundneunzig verstreute Zuckerkristalle auf meinem Küchentisch und versuchte, sie ein wenig näher kennenzulernen. Mit einer Lupe stellte ich nach einiger Zeit sogar kleinste Unterschiede fest und ich meinte unter der einen oder der anderen Kristallstruktur sogar subversive Anwandlungen bemerkt zu haben. Da kam mir eine der winzigen Formen durch ihre abseitige Lage auf dem Untergrund, sehr weit weg von der Tasse meines Kindes, sogar so vor als wolle sie partout nicht in den Tee geworfen werden. Unfassbar! Ein Zuckerkristall mit Persönlichkeit. Eindeutig auffällig. Ich gab das natürlich sofort an die NSA weiter (für was ist das noch die Abkürzung? N ichts S ehen A ußerwasichwill?) Der rebellische Kristall wurde sogleich von mir gemeldet, dingfest gemacht, von den anderen braven, beisammen liegenden getrennt…sprich: vom Tisch gewischt. Ich war dann sehr zufrieden, einen möglichen Schädling seiner weiteren Handlungskraft beraubt zu haben. Nicht auszudenken, meine Kinder hätten keinen Zucker mehr für den Tee! Vor lauter Freude über meine Möglichkeiten warf ich versehentlich den prall gefüllten Streuer um. Mein Kind hat ihn wohl unverschraubt zurückgestellt. So ergoss sich der gesamte Inhalt über den Tisch. Nach kurzer Schockstarre über diese nun so unüberschaubare Menge auf dem blankpolierten Holz, begann ich erneut mit meiner intensiven Betrachtung, merkte aber schnell, dass ich Hilfe dabei brauchte die vielen Einzelwesen in diesem Zuckerberg in Kategorien von „Mitmachkristall“ und Sonderling einzuteilen. Ich bat Nachbarn um Hilfe. Sie kamen bereitwillig. Alle froh, etwas für unsere Sicherheit am Tisch tun zu können. Wir fingen mit groben Einteilungen an: ist der Zucker hier ein- oder mehrfach? Haben alle vorliegenden Kristalle das gleiche spezifische Gewicht und Gesicht? Herkunft, Körnung und auch der Reinheitsgrad wurden berücksichtigt. Aber diese wahrscheinlich Millionen kleinster Teile erschöpften uns schnell. Trotz Kopflampe, Pinzette und Lupenglas lehnten wir uns bald erschöpft zurück…sahen hilflos ein, wie unmöglich es ist eine solche Menge an Information in zuverlässige Aussagen über die Absicht eines jeden Einzelnen zu treffen. Völlig ermüdet – wir tranken zum Abschied noch gemeinsam eine verunsicherte Tasse ungesüßten Tees – gingen meine Nachbarn an ihre eigenen Tafeln nachhause. Ich blieb zurück am Zuckerberg; kurz vor der Verzweiflung. Den Kopf schlaff auf meine Hande gestützt hing ich so gerade eben noch am Tisch und betrachtete angstvoll diese kleinen, weißen, gefährlich undurchschaubaren Krümel. Fast fielen mir schon die Augen zu – irgendwann siegt sogar über die Angst der Schlaf – da kam mir die rettende Idee: Ich muss mich unter sie mischen. Ganz nah bei ihnen sein. Von Kristall zu Kristalline gehen, hören, sehen, was sie im Schilde führen. Nur so kann ich sie bekämpfen. Nur so geht Prävention! Den Puls der Zeit gleich im Anfang sprengen! Ich richtete mich auf, taxierte ohne zu Blinzeln, fühlte mich in die weiße Streu ein, meinte beinahe, sie tuscheln zu hören. „Schau mal, er belauscht uns jetzt sogar.“ Auch Kichern meinte ich zu vernehmen, tat das aber als Erschöpfungshalluzination ab. Ich blieb dran, machte weiter und mein intensiver Blick hätte die Versammlung auf meinem Tisch bestimmt fast aufgelöst, da passierte etwas merkwürdiges. Ich weiß nicht genau, wie mir geschah. Ich kann mich noch dunkel erinnern, dass sie plötzlich über mir waren, auf mir saßen. Keine Chance, sie von meinem dunklen Hemd zu wischen. Sie verkrochen sich unter meinen Epauletten. Sie waren einfach überall. Zuletzt auch in mir drin. Ich bekam keine Luft mehr und nach einem Hustenanfall wurde ich ohnmächtig. Ich wachte bei ihnen wieder auf. Weiß…überall. Ich kenne erst siebzehn von ihnen mit Namen. Aber ich habe Zeit. Hier seht ihr ein Porträt von mir. Unten links winke ich euch fröhlich zu. Könnt ihr mich sehen?